Jüdische Textkultur und das moderne Europa

 

(1789-1848)

Die Emanzipation der europäischen Juden wird in der Regel als Geschichte der Assimilation beschrieben. Vor allem die Bürgertumsforschung perspektiviert den sozialen Aufstieg der Juden im 19. Jahrhundert stets als Resultat des Anschlusses an Modernisierungsprozesse der Umgebungsgesellschaft.

Diese einseitige Perspektive bricht das Projekt durch den kulturgeschichtlichen Nachweis auf, wie konstitutiv einzelne Juden um 1800 und danach an der Ausbildung von Vorstellungen des Modernen unter Anschluss an ihre textkulturelle Tradition mitgewirkt haben. Nicht nur, dass sich Juden aufgrund ihrer traditionell transnationalen, multilingualen und weitgehend urbanen Lebenswirklichkeit nach 1789 als Europäer avant la lettre verstehen konnten, sie konnten in einem Umfeld, das gerade in den deutschsprachigen Ländern oft genug reaktionär und antimodern war, auch die eigene textkulturelle, den Einzelnen zur unablässigen Arbeit an Gesetz und Überlieferung verpflichtende Tradition fruchtbar machen, um Wege durch eine immer unübersichtlicher werdende, krisenbehaftete Zeit zu skizzieren. Denn Gesetz und Überlieferung als unklare, den Einzelnen zur unablässigen Deutungsarbeit verpflichtende Fixpunkte anzunehmen hieß, die Undeutlichkeit einer komplizierter werdenden Welt methodisch als Altvertrautes einzuholen und zum Gegenstand einer Öffentlichkeit zu machen, die sie als Chance annimmt, um die Gegenwart durch immer neue, praxisverändernde Relektüre des Überkommenen zum Besseren zu verändern.

Die zunehmende Unverfügbarkeit fester Orientierung in der Neuzeit, so der protomoderne und durchaus selbstbewusste Subtext dieser Juden, ist kein Übel, sondern die aus dem Judentum bekannte Voraussetzung dafür, mit den unbekannten Herausforderungen der Zukunft Schritt zu halten.

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